Grace for Drowning Hot
Musik
Hörspiegel-Meinung
Hoppla, was haben wir denn hier? Steven Wilsons zweites Solo-Album besticht durch zunächst nicht durch überragende Melodien oder es klares (Genre-)Konzept, wie man es auf Grund seiner Arbeit mit Blackfield oder Porcupine Tree erwarten könnte, sondern durch seine Verstörungsfähigkeit.
Wilson selbst sagt zu „Grace for Drowning“:
„‚Insurgentes' (Anm. d. Red.: Steven Wilsons erstes Solo-Album) war für mich ein wichtiger Schritt in eine neue Richtung. Diese Platte ist experimenteller und vielseitiger. Für mich waren die goldene Zeiten der Musik die späten 60er und frühen 70er, als das Album der wichtigste Ausdruck eines Künstlers war, als Musiker sich von den 3 Minuten Pop Song Formaten frei machten und anfingen Jazz und klassische Musik einfließen zu lassen und kombiniert mit dem psychedelischen Spirit eine Soundreise zu kreieren. Ohne Retro sein zu wollen ist mein Album eine Art Hommage an diesen Spirit. Es gibt alles, von Ennio-Morricone-artiger Filmmusik über Chöre, Klavier-Balladen bis hin zu einem 23-minütigem Progressive-Jazz-inspirierten Stück. Tatsächlich habe ich diesmal mit ein paar Jazz Musikern gearbeitet, die Idee dazu stammt von meiner Arbeit an den Remixen der King Crimson Alben“
Bei den ersten zwei Hördurchläufen habe ich diese Selbsteinschätzung noch nicht gekannt. Insbesondere die Verbindung zu King Crimson war mir nicht klar. Höre ich nun die Stücke erneut und halte sie gegen Wilsons Aussage, so passt das alles stimmig zueinander. Wilson selbst hat mir die Schablone gegeben, die Hörhilfe, die es mir ermöglicht, „Grace for Drowning“ einfacher verdaulich zu machen und zu verstehen. Denn viele der Stimmungs- und unvermittelten Genre-Wechsel klingen recht typisch für King Crimson. Das wahrscheinlich plakativste Stück ist „Raider II“ mit seinen über 23 Minuten Laufzeit. Ist Avant-Garde die richtige Beschreibung hierfür? Jedenfalls vereint Wilson hierin alles, was das Album kann. Besonders die eingesetzten Blasinstrumente haben es mir angetan. Saxophon und Klarinette, vor allem aber die Flöten. Sie alle werden progressiv und bisweilen enorm (free-)jazzig eingesetzt. Die von Ex-Eurythmics-Gründer Dave Steward eingespielten synthetischen Chöre sind laut abgemischt und wirken extrem verstörend.
Doch Steward ist nicht der einzige Altbekannte Mitstreiter auf „Grace for Drowning“. Wilson konnte die Ex-King Crimson-Musiker Pat Matelotto, Trey Gunn und Tony Levin ebenso gewinnen wie den Dream Theater-Keyboarder Jordan Rudess.
Das Schöne an „Grace for Drowning“ ist gleichzeitig sein Nachteil: Es ist ebenso wenig plakativ wie direkt zugänglich. Das macht es einerseits zu einer Art „Geheimtipp“ für alle, die es schaffen, sich längere Zeit mit dem Album zu beschäftigen. Sie werden sich wie Eingeweihte in ein Geheimnis fühlen. Doch genauso wird es diejenigen geben, die gar nichts mit „Grace for Drowning“ anfangen können. Dazu fällt mir ein Zitat ein, das ich beim durchblättern des Magazins Intro über das Album gelesen habe (ich kann es hier nur aus dem Gedächtnis wiedergeben): „Musik für Oppas, die noch ganz gut hören können.“ Mein persönlicher erster Eindruck beim ersten Hören: „Langweilig.“ Mein Eindrück während ich das Album nun zum fünften Mal höre: „Ausgeklügelt, facettenreich, virtuos, immer wieder neu zu entdecken.“ Doch das ist keine Garantie, dass es jedem Hörer so gehen wird.
Wer mag, ist eingeladen, eigene Erfahrungen zu machen. Ich vergebe meine Punktzahl jedenfalls unter dem Eindruck des fünften Hörens.
Wer nicht so lange auf den Aha-Effekt warten möchte, startet mit den Songs „Deform to Form a Star“, „No Part of Me“ und „Postcard“. Einer meiner Favoriten ist das kalt-elektronische „Index“, das klingt wie eine rockigere Variante von Massive Attack.