Herbie Hancock: Funkiger Space-Trip ins Jazz-Universum Hot
Nico Steckelberg
26. November 2017
Bericht
Künstler
Veranstaltungsort
Location
Veranstaltungsdatum
23. November 2017
Hörspiegel-Bericht
Text: Nico Steckelberg, Der Hörspiegel
Fotos © 2017 tomas rodriguez fotografie. Alle Rechte vorbehalten.
Ohne viel Brimborium betreten vier schwarz gekleidete Männer die Bühne des Essener Philharmonie. Es wird kein Wort gesprochen, nur kurz ins Publikum gewunken, und dann geht jeder auf seine Position: Hinter das Drumkit, an den Bass, das Saxophon umgeschnallt und Finger auf die Tasten. Augen auf den Bandleader, der sich, umringt von Keyboards und einem Flügel, frontal dem Publikum zuwendet um seinem Synthesizer erste fremdartige Töne zu entlocken.
Herbie Hancock ist ein begeisterter Science-Fiction-Fan. Der 77-jährige Jazz-Pianist und Komponist aus Chicago, Illinois, hatte schon immer ein Faible für zukünftige Welten. Das kann man nicht allein an vielen seiner Cover-Artworks der 70er- und 80er-Jahre erkennen. Unlängst wurde er von Regisseur Luc Besson gefragt, ob er nicht Spaß an einem Cameo-Auftritt im Kino-Blockbuster „Valerian“ habe. Hancock war sofort Feuer und Flamme und sagte zu. Auch in den Kompositionen und Produktionen Hancocks lässt sich seine SciFi-Begeisterung nie ganz verbergen, wie sein Livepublikum in der Philharmonie Essen gleich zu Beginn des Konzertabends im nasskalten Spätherbst 2017 bezeugen kann.
Es ist ein typischer Science-Fiction-Sound, der den Konzertsaal erfüllt. Sehr ungewohnt in dieser Umgebung und bestimmt recht ungewöhnlich für das Standard-Jazz-Publikum. Flächige Sphären treffen auf tiefe Drone-Klänge, experimentelle Synthetik erschafft unerforschte Soundscapes, immer wieder leicht pointiert durch einzelne Becken-Schläge. Etwas entwickelt sich da. Auch der Mann am Bass stimmt nun vorsichtig in das empfindliche, psychedelische Klanggebilde mit ein. Es wird immer intensiver, erinnert schließlich an den Start eines Düsenjets auf einem Flugzeugträger. Und dann, im nächsten Moment, ist alles wieder ganz anders. Dann heißt es ohne ein Wort zu sagen: „Gentlemen, start your engines!“
Der Bass spielt einen strukturierten Loop, das Schlagzeug bringt Struktur, Herbie Hancock dreht sich um 90 Grad nach links und switcht vom Synthesizer zum Flügel. Das Saxophon steuert eine
Melodie bei. Das erste Stück des Abends entsteht, das Licht hellt auf, der Flug hat begonnen. Keine Science-Fiction mehr, Herbie Hancock und Co. heißen ihr Publikum willkommen im irdischen Jazz-Himmel.
Die Band schafft es spielend, zwischen den verschiedenen Jazz-Spielarten hin- und her zu wechseln. Oft sind die Stücke des Abends geprägt vom Hancock-typischen Funk. Alles groovt, die Zuhörer wippen mit ihren Oberkörpern, wiegen die Köpfe im Takt oder trommeln mit den Handflächen auf ihren Oberschenkeln mit. Sie werden ungewollt Teil der Performance.
Fast unbemerkt verschieben sich die Ebenen: Erst reißt eines der Instrumente aus dem Konzept aus, spielt sein eigenes Ding, dann bricht das Schlagzeug den Takt und mutiert in eine alternative Ebene hinein. Anspruchsvoll, verspielt, faszinierend. So etwas bekommt man live nur hin, wenn man absolute Cracks um sich schart. Für seine europäischen Tourtermine setzt Herbie Hancock dabei auf die Besten der Besten.
Natürlich lässt es sich der Bandleader nicht nehmen, seine Mannschaft persönlich vorzustellen. Er macht das ganz sympathisch, pickt sich eine Dame aus dem Publikum und macht sie scherzhaft mit dem Bassisten bekannt: „Andrea, this is James.“ James Genus ist eigentlich der Stammbassist der US-amerikanischen Comedy-Show Saturday Night Live. Doch wenn Hancock ruft, dann muss man vermutlich nicht zweimal überlegen. Genus‘ Bassspiel gibt den Stücken des Abends die nötige Struktur. Wann immer eines der anderen Instrumente in alternative Ebenen abdriftet, sind es meist Genus‘ Bassläufe, deren Loops die Orientierung ermöglichen und als Kompass fungieren. Hierhin kannst du dich zurückziehen, wenn dir der Rest zu chaotisch wird. Man sieht James Genus zu jedem Zeitpunkt an, wie sehr er die einzelnen Stücke lebt. Seine Lippen mimen stets ein freudiges Lächeln und singen die Bassläufe meist mit. Herbie Hancock bringt’s auf den Punkt: „Everybody wants James!“ Wen wundert’s?
Dasselbe weiß er auch über seinen Schlagzeuger Trevor Lawrence, Jr. zu berichten. „He knows exactly what to do.“ Das kann man so unterschreiben, denn wann immer ein Song zu straight ist, bringt Lawrence den Drive hinein, setzt Akzente, schlägt Haken, designt die Stücke mit seinem Beat. Sein aktuelles Solo-Album „Relationships“ erschien diesen Sommer, doch auf Tour geht er mit Herbie Hancock.
Die eindrucksvollsten Solopassagen liefert an diesem Abend neben Hancock jedoch der Saxophonist und Keyboarder Terrace Martin. „Man findet diese Kombination nicht sehr oft bei Musikern“, erklärt Hancock und feixt: „He must be really weird.“ Tatsächlich ist Martin nicht nur ein begnadeter Livemusiker, sondern auch ein begehrter Musikproduzent. So hat er beispielsweise „To Pimp a Butterfly“ produziert, das von den Kritikern hochgelobte Album von Kendrick Lamar. Und – soviel wollte Herbie Hancock schon jetzt verraten – Terrace Martin wird auch sein kommendes Album produzieren.
Die Kombination der Musiker ist toll, die Atmosphäre locker und verspielt. Die vier Männer haben eine herzliche, nonverbale Kommunikation auf der Bühne, die vor allem von Humor geprägt ist. Es wird viel gelacht. Das hindert jedoch weder Band noch Publikum daran, phasenweise in einen tranceartigen Zustand zu verfallen. Denn die Stücke haben schlichtweg eine Sogwirkung auf ihre Hörer. Sei es durch ihren Beat, den Groove, die funkige Produktion oder die vielen interessanten Soundspielereien, wie beispielsweise in Hancocks und Martins Vocoder-Duetten. Ein ganzer Roboter-Chor erschallt, live kreiert von zwei Männern und ihren Klangmaschinen. Und da wären wir wieder bei der Science Fiction, die sich tatsächlich wie ein roter Faden durch den Abend zieht und hier und dort immer mal wieder in verschiedenen Sounds zum Ausdruck gebracht wird.
Als letzten regulären Song des Abends stimmt das Quartett den Megahit „Cantaloupe Island“ an. Natürlich begleitet vom tosenden Applaus des Publikums, das sich auch ansonsten nicht lumpen lässt und immer mal wieder nach ausgiebigen Solopassagen seine Begeisterung zum Ausdruck bringt. So wie auch durch die Standing Ovations nach dem fulminanten Schlussakkord von „Cantaloupe Island“, woraufhin sich die vier Musiker noch ein weiteres Mal auf die Bühne begeben: Mit Herbie Hancock an seiner legendären Roland AX-7 Keytar und dem Song „Chameleon“ vom 1973er Album „Head Hunters“ geht es dann in die letzte Runde.
Tolle Melodie, cooler Groove, macht einfach Spaß und entlässt das Essener Publikum mit einem beschwingten Wohlgefühl in die nasskalte Nacht. Aber wen stört schon das Klima auf der Erde nach einem solch fulminanten Space-Trip ins funkige Jazz-Universum?
[Danke an Marcel Westphal & Q-rious music und Tomas Rodriguez ]
Fotos © 2017 tomas rodriguez fotografie. Alle Rechte vorbehalten.
Ohne viel Brimborium betreten vier schwarz gekleidete Männer die Bühne des Essener Philharmonie. Es wird kein Wort gesprochen, nur kurz ins Publikum gewunken, und dann geht jeder auf seine Position: Hinter das Drumkit, an den Bass, das Saxophon umgeschnallt und Finger auf die Tasten. Augen auf den Bandleader, der sich, umringt von Keyboards und einem Flügel, frontal dem Publikum zuwendet um seinem Synthesizer erste fremdartige Töne zu entlocken.
Herbie Hancock ist ein begeisterter Science-Fiction-Fan. Der 77-jährige Jazz-Pianist und Komponist aus Chicago, Illinois, hatte schon immer ein Faible für zukünftige Welten. Das kann man nicht allein an vielen seiner Cover-Artworks der 70er- und 80er-Jahre erkennen. Unlängst wurde er von Regisseur Luc Besson gefragt, ob er nicht Spaß an einem Cameo-Auftritt im Kino-Blockbuster „Valerian“ habe. Hancock war sofort Feuer und Flamme und sagte zu. Auch in den Kompositionen und Produktionen Hancocks lässt sich seine SciFi-Begeisterung nie ganz verbergen, wie sein Livepublikum in der Philharmonie Essen gleich zu Beginn des Konzertabends im nasskalten Spätherbst 2017 bezeugen kann.
Es ist ein typischer Science-Fiction-Sound, der den Konzertsaal erfüllt. Sehr ungewohnt in dieser Umgebung und bestimmt recht ungewöhnlich für das Standard-Jazz-Publikum. Flächige Sphären treffen auf tiefe Drone-Klänge, experimentelle Synthetik erschafft unerforschte Soundscapes, immer wieder leicht pointiert durch einzelne Becken-Schläge. Etwas entwickelt sich da. Auch der Mann am Bass stimmt nun vorsichtig in das empfindliche, psychedelische Klanggebilde mit ein. Es wird immer intensiver, erinnert schließlich an den Start eines Düsenjets auf einem Flugzeugträger. Und dann, im nächsten Moment, ist alles wieder ganz anders. Dann heißt es ohne ein Wort zu sagen: „Gentlemen, start your engines!“
Der Bass spielt einen strukturierten Loop, das Schlagzeug bringt Struktur, Herbie Hancock dreht sich um 90 Grad nach links und switcht vom Synthesizer zum Flügel. Das Saxophon steuert eine
Melodie bei. Das erste Stück des Abends entsteht, das Licht hellt auf, der Flug hat begonnen. Keine Science-Fiction mehr, Herbie Hancock und Co. heißen ihr Publikum willkommen im irdischen Jazz-Himmel.
Die Band schafft es spielend, zwischen den verschiedenen Jazz-Spielarten hin- und her zu wechseln. Oft sind die Stücke des Abends geprägt vom Hancock-typischen Funk. Alles groovt, die Zuhörer wippen mit ihren Oberkörpern, wiegen die Köpfe im Takt oder trommeln mit den Handflächen auf ihren Oberschenkeln mit. Sie werden ungewollt Teil der Performance.
Fast unbemerkt verschieben sich die Ebenen: Erst reißt eines der Instrumente aus dem Konzept aus, spielt sein eigenes Ding, dann bricht das Schlagzeug den Takt und mutiert in eine alternative Ebene hinein. Anspruchsvoll, verspielt, faszinierend. So etwas bekommt man live nur hin, wenn man absolute Cracks um sich schart. Für seine europäischen Tourtermine setzt Herbie Hancock dabei auf die Besten der Besten.
Natürlich lässt es sich der Bandleader nicht nehmen, seine Mannschaft persönlich vorzustellen. Er macht das ganz sympathisch, pickt sich eine Dame aus dem Publikum und macht sie scherzhaft mit dem Bassisten bekannt: „Andrea, this is James.“ James Genus ist eigentlich der Stammbassist der US-amerikanischen Comedy-Show Saturday Night Live. Doch wenn Hancock ruft, dann muss man vermutlich nicht zweimal überlegen. Genus‘ Bassspiel gibt den Stücken des Abends die nötige Struktur. Wann immer eines der anderen Instrumente in alternative Ebenen abdriftet, sind es meist Genus‘ Bassläufe, deren Loops die Orientierung ermöglichen und als Kompass fungieren. Hierhin kannst du dich zurückziehen, wenn dir der Rest zu chaotisch wird. Man sieht James Genus zu jedem Zeitpunkt an, wie sehr er die einzelnen Stücke lebt. Seine Lippen mimen stets ein freudiges Lächeln und singen die Bassläufe meist mit. Herbie Hancock bringt’s auf den Punkt: „Everybody wants James!“ Wen wundert’s?
Dasselbe weiß er auch über seinen Schlagzeuger Trevor Lawrence, Jr. zu berichten. „He knows exactly what to do.“ Das kann man so unterschreiben, denn wann immer ein Song zu straight ist, bringt Lawrence den Drive hinein, setzt Akzente, schlägt Haken, designt die Stücke mit seinem Beat. Sein aktuelles Solo-Album „Relationships“ erschien diesen Sommer, doch auf Tour geht er mit Herbie Hancock.
Die eindrucksvollsten Solopassagen liefert an diesem Abend neben Hancock jedoch der Saxophonist und Keyboarder Terrace Martin. „Man findet diese Kombination nicht sehr oft bei Musikern“, erklärt Hancock und feixt: „He must be really weird.“ Tatsächlich ist Martin nicht nur ein begnadeter Livemusiker, sondern auch ein begehrter Musikproduzent. So hat er beispielsweise „To Pimp a Butterfly“ produziert, das von den Kritikern hochgelobte Album von Kendrick Lamar. Und – soviel wollte Herbie Hancock schon jetzt verraten – Terrace Martin wird auch sein kommendes Album produzieren.
Die Kombination der Musiker ist toll, die Atmosphäre locker und verspielt. Die vier Männer haben eine herzliche, nonverbale Kommunikation auf der Bühne, die vor allem von Humor geprägt ist. Es wird viel gelacht. Das hindert jedoch weder Band noch Publikum daran, phasenweise in einen tranceartigen Zustand zu verfallen. Denn die Stücke haben schlichtweg eine Sogwirkung auf ihre Hörer. Sei es durch ihren Beat, den Groove, die funkige Produktion oder die vielen interessanten Soundspielereien, wie beispielsweise in Hancocks und Martins Vocoder-Duetten. Ein ganzer Roboter-Chor erschallt, live kreiert von zwei Männern und ihren Klangmaschinen. Und da wären wir wieder bei der Science Fiction, die sich tatsächlich wie ein roter Faden durch den Abend zieht und hier und dort immer mal wieder in verschiedenen Sounds zum Ausdruck gebracht wird.
Als letzten regulären Song des Abends stimmt das Quartett den Megahit „Cantaloupe Island“ an. Natürlich begleitet vom tosenden Applaus des Publikums, das sich auch ansonsten nicht lumpen lässt und immer mal wieder nach ausgiebigen Solopassagen seine Begeisterung zum Ausdruck bringt. So wie auch durch die Standing Ovations nach dem fulminanten Schlussakkord von „Cantaloupe Island“, woraufhin sich die vier Musiker noch ein weiteres Mal auf die Bühne begeben: Mit Herbie Hancock an seiner legendären Roland AX-7 Keytar und dem Song „Chameleon“ vom 1973er Album „Head Hunters“ geht es dann in die letzte Runde.
Tolle Melodie, cooler Groove, macht einfach Spaß und entlässt das Essener Publikum mit einem beschwingten Wohlgefühl in die nasskalte Nacht. Aber wen stört schon das Klima auf der Erde nach einem solch fulminanten Space-Trip ins funkige Jazz-Universum?
[Danke an Marcel Westphal & Q-rious music und Tomas Rodriguez ]