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Nico Steckelberg   29. November 2015  
Wir

Rückentext

26. Jahrhundert, das Mathematische Zeitalter ist angebrochen und die glückliche Nummer D-503 berichtet begeistert von den Errungenschaften des »Einzigen Staates«, wo die Menschen endlich Nummern und dem unzivilisierten Zustand der Freiheit entwachsen sind. In gläsernen Wohnungen führen sie ein glückliches Leben unter dem segensreichen Joch der Vernunft, jeder Bereich ihres Lebens ist bis auf die Sekunde genau durch die »Gesetzestafeln« geregelt. D-503 preist dieses vollkommene Glück des Einheitlichen Staates in seinen Aufzeichnungen. Doch dann verliebt er sich in die rebellische I-330, die ihm die Welt jenseits der gläsernen Stadt zeigt und seinen Glauben an das System ins Wanken bringt. Samjatins bitterböser utopischer Zukunftsroman hat auch heute, im Zeitalter gläserner Identitäten und der zunehmenden Überwachung von Seiten des Staates und multinationaler Konzerne, nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

Hörspiegel-Meinung

Story/Inhalt 
 
9,0
Atmosphäre 
 
10,0
Sprecher 
 
8,0
Soundtrack 
 
9,0
Aufmachung 
 
8,0
Gesamtwertung 
 
8,8

Mit seiner finsteren Zukunfts-Dystopie „Wir“ schafft der russische Autor Jewgenij Samjatin einen Einblick in eine düster-nüchterne Zukunftsgesellschaft, deren Lebensmittelpunkte das geplante Funktionieren und das Orientieren an klaren Strukturen und Regeln darstellen. Namen sind überflüssig, man redet sich mit der Nummer an. Nahrung ist auf ihre wesentlichen Bestandteile reduziert, ein „du“ wird nicht benötigt, man spricht sich mit Sie an, auch in einer Partnerschaft. Diese ist natürlich auch reglementiert, die persönliche Geschlechtszeit klar vorgegeben. Die Beschützer, aus unserer Sicht eher eine Art Staatssicherheit, sorgen dafür, dass Ausreißer bestraft werden. Der Henker heißt hier Wohltäter, und es ist eine Wonne, für den Staat sterben zu dürfen.

Dieser Roman hatte unterschiedliche Folgewirkungen. Auf der persönlichen Ebene erhielt Samjatin – zeitlebens politisch aktiv als Revolutionär – ein Schreibverbot von der „Parteiführung“. Nicht verwunderlich, denn „Wir“ ist die pure Kritik an einem System, das der Autor nicht billigte. In literarischer Sicht stellte „Wir“ einen Ideenfundus dar. „1984“ von George Orwell, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ und auch „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury erschienen nach „Wir“ und beinhalten deutliche Ähnlichkeiten zu diesem russischen SciFi-Vorboten.

Die Hörspielfassung unter der Regie von Christoph Kalkowski gefällt mir sehr gut. Sie schafft es, die perfide Menschensteuerung atmosphärisch auf den Punkt zu bringen und spielt auch mit den fantastischen Erzählelementen des Romans. Eine tragende Rolle spielt hierbei der Soundtrack aus der Feder von Raphael D. Thöne, der in weiten Phasen wie eine klassisch-sinfonische Stummfilmatmosphäre schafft und in den Augenblicken, in denen es dem Protagonisten erlaubt ist, von einer besseren Welt zu träumen, in einen modernen elektronischen Sound umswitcht. Für die sehr üppigen und oft auch überdramatisch eingesetzten sinfonischen Passagen wurde das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Jonathan Stockhammer eingesetzt, die Elektronisch stammt von dasDUR. Beides grandios in der Umsetzung und vor allem auch in der Überzeichnung beider Aspekte des Romans. Ein wichtiges Stilmittel, das mich beim Hören oftmals an Terry Gilliams „Brazil“ erinnerte.

Es braucht nicht mal ein Dutzend Sprecher um dieses Hörspiel zu inszenieren. In den Hauptrollen hören wir Andreas Pietschmann und Jana Schulz, als der Antagonistische „Wohltäter“ darf sich Hanns Zischler austoben. Ein unaufdringliches Ensemble, das die Dramaturgie des Hörspiels Klasse umsetzt.

Die Produktion des SWR erscheint auf 2 CDs bei Der Audio Verlag.

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