GRM - Brainfuck Hot
Nico Steckelberg
30. Juni 2019
Hörbuch
Autor(en) oder Hrsg.
Sprecher
Erscheinungsjahr
Format
- MP3-CD
- Download
Anzahl Medien
2
Rückentext
"GRM" beginnt im England einer nahen Zukunft, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Die Helden: vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM.
Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Zukunft für sie gibt, brechen sie nach London auf. Jeder, der sich hier einen Registrierungs-Chip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Die vier Kinder aber versuchen, außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.
Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Zukunft für sie gibt, brechen sie nach London auf. Jeder, der sich hier einen Registrierungs-Chip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Die vier Kinder aber versuchen, außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.
Hörspiegel-Meinung
Nico Steckelberg
Story/Inhalt
10,0
Atmosphäre
10,0
Sprecher
10,0
Aufmachung
7,0
Gesamtwertung
9,3
Dystopien pflastern den Weg des Netflix-verwöhnten Binge-Watchers zum Ende der 2010er-Jahre. Zombie-Horden bedrohen die letzten Bastillonen der Überlebenden, Selbstversorgung und Verteidigungstechniken sind überlebensnotwendig. Zukunfstpessimistische Umwelt- und Gesellschaftsbilder finden sich in nahezu allen popkulturellen Bereichen. Virtual Reality-Spiele vermitteln in High Definition einen lebhaften Eindruck über die postapokalyptische Endzeit im Strahlenschutzbunker, und man darf emotional eindringlich erfahren, wie es sein wird, auf sich selbst angewiesen zu sein. Bereite dich auf den K-Fall vor! Survival of the fittest!
Alles nur Fiktion? Oder doch eher die Vorbereitung einer (mehr oder weniger) sozialstaat-verwöhnten Bevölkerung auf die leistungsorientierte neoliberale Zukunft?
Ein Blick zurück. Dystopien gibt es nicht erst seit einigen Jahren, wenngleich Produktionen wie „The Walking Dead“, die „Insurgent – Die Bestimmung“-Reihe, „World War Z“, die „Fallout“-Reihe, „The Purge“ und so weiter diesen Eindruck vermitteln.
Zu den bekanntesten klassischen Dystopien in der Literatur zählen sicherlich „1984“ von George Orwell, „Brave New World“ von Aldous Huxley oder „Мы/Wir“ von Jewgeni Iwanowitsch Samjatin. Bis heute verwenden wir den Begriff „Big Brother“ (aus „1984“), wenn es um den Überwachungsstaat geht.
Was alle diese Dystopien gemeinsam haben, ist, dass sie in einem zukünftigen Gesellschaftsbild mit ihrer Erzählung starten. Es ist ein Wurmloch in die Zukunft, ein Sprung. Du bist sofort da, es gibt keinen Übergang vom Hier und Jetzt zum Dort und Dann.
Und da ist nun dieser neue Roman der deutsch-schweizerischen Autorin Sibylle Berg, die schon immer für ihren Scharfsinn bekannt war. Das Buch trägt den kryptischen und provokanten Titel „GRM – Brainfuck“. Die drei Buchstaben sprechen sich „Grime“ aus und beziehen sich auf das gleichnamige Musikgenre. Entstanden aus Hip Hop und Electronica sind es hier vor allem die deutlichen, gesellschaftskritischen Texte, die die Künstler ins Mikro rappen. Hart, ohne Umschweife und ohne Verschönerungen, die ganze Scheiße so, wie sie nun mal ist. Es ist der perfekte Titel für dieses perfekte dystopische Buch, das aus der Sicht verschiedener – meist jugendlicher – Protagonisten, insbesondere aus den sozialen Brennpunkten des Post-Brexit Englands erzählt wird.
-- Der folgende Abschnitt enthält Spoiler --
Sibylle Berg schafft folgendes: Ihr Roman beginnt in einer Zeit, die nur einen kleinen Schritt in der Zukunft liegt, und deshalb absolut nachvollziehbar. Die Sprache des Romans: Hart, direkt, oft sachlich, selbst wenn über Gefühle gesprochen wird. Und dann entwickelt sich die Geschichte der Protagonisten entlang einer Timeline, die mehreren Grundannahmen folgt.
Auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene folgt Berg der These, dass der Neoliberalismus konsequent fortgeführt wird. Manipulation der Bevölkerung durch Belohnungssysteme und Massen-Profiling. Überwachung muss ausgebaut werden, Bürger-Punkte sorgen dafür, dass die Kriminalitätsrate zunächst zurück geht.
Möglich machen das auf der technischen Ebene zunächst große Datenclouds und Analystemethoden, die mit fortschreitender Erzählzeit künstlichen Intelligenzen weichen, die irgendwann eine eigene, für Menschen unverständliche Maschinensprache entwickeln und in voller Ausprägungsstufe sogar geeignete Kandidaten für Präsidentschaftswahlen empfehlen. Politisch gesehen funktioniert die Demokratie schon noch, aber die Entscheidungen, die zur Wahl einer Partei führen, sind leicht beeinflussbar über gezielte Impulse der Massenmedien. Es ist auch völlig egal, ob du das Ganze durchschaust oder nicht. Das ändert rein gar nichts. Es gipfelt darin, dass der Premier am Ende ein Avatar ist, ein Vertreter der „Online-Partei“. Gute Laune, darauf kommt es an. Egal, ob die Fleischfarmen den Planeten zerstören. Der ist eh schon kaputt. Die vielen Wetterkatastrophen nimmt man kaum noch wahr. Dann kann man auch gleich so weiter machen.
Dass es kaum noch Berufe gibt, die noch vor wenigen Jahren Erfolgsgaranten waren, sorgt dafür, dass sich das Gesellschaftsbild mehr und mehr wandelt. Banker? Brauchen wir nicht mehr. Wir brauchen Programmierer, die unsere KIs programmieren. Obwohl, inzwischen auch nicht mehr. KIs können sich viel besser selbst programmieren.
Konsum ist der Motor der Gesellschaft. Und es ist die einzige Befriedigung, die bleibt, nachdem man durch das ganze Rumgef*cke so dermaßen abgestumpft ist, dass nichts Körperliches oder Geistiges mehr Freude auslöst. Sexualität – langweilig. Reproduktion – weshalb?
Es herrscht am Ende einfach nur noch Resignation. „Ist halt so. Kannste ja eh nix machen. Suizid ist eine vielversprechende Option.“
„GRM“ ist ebenso vielschichtig wie düster. Die Sprache ist ungefiltert und rau. Während des gesamten Hörens des Hörbuches verspürt der Rezipient eine innere Unruhe, Panik, später ohnmächtige Trauer. Man will das nicht. Das soll so bitte nicht werden!
Gut, dass es nur eine Geschichte ist!
Gut, dass es nur eine Geschichte ist? (<-- Fragezeichen)
Sibylle Berg schafft es, einen Weckruf an die Welt zu senden. Sie macht spürbar, was passieren wird – zweifelsfrei – wenn die Menschheit nicht auf der Stelle das Ruder herumreißt. Es geht nicht darum, technischen Fortschritt zu verdammen. Es geht darum, den Umgang damit sensibel zu gestalten und aufmerksam die politischen Geschehnisse zu beobachten. Es zählen der Mensch und seine Bedürfnisse, nicht seine Kaufkraft.
Deutet man „GRM“ als Warnung, dann könnte die Aussage sein: „Lieber Leser, lieber Hörer, du stehst mit viel Glück noch VOR den wesentlichen Wendepunkten der Menschheitsgeschichte und kannst sie vielleicht noch ein bisschen beeinflussen. Dann aber jetzt mal ran.“
Dieses Buch ist schlichtweg erschütternd und äußerst lesens- und hörenswert. Es hat das Potenzial zum Klassiker, und Sibylle Berg hat mit „GRM - Brainfuck“ gute Chancen, in 100 Jahren in einem Satz mit George Orwell, Aldous Huxley und Jewgeni Iwanowitsch Samjatin als eine der großen dystopischen Autorinnen genannt zu werden. Hoffen wir in unser aller Interesse, dass sie nicht als Prophetin betitelt werden wird.
Die Hörbuchfassung erscheint bei Argon oder online bei Audible. Gelesen wird das Hörbuch abwechselnd von Torben Kessler und Lisa Hrdina, die beide den Vibe von „GRM“ absolut perfekt treffen und durch ihre gekonnten Betonungen die dunkelschwarz-zynischen Konnotationen von Bergs Romantext emotional greifbar machen.
Alles nur Fiktion? Oder doch eher die Vorbereitung einer (mehr oder weniger) sozialstaat-verwöhnten Bevölkerung auf die leistungsorientierte neoliberale Zukunft?
Ein Blick zurück. Dystopien gibt es nicht erst seit einigen Jahren, wenngleich Produktionen wie „The Walking Dead“, die „Insurgent – Die Bestimmung“-Reihe, „World War Z“, die „Fallout“-Reihe, „The Purge“ und so weiter diesen Eindruck vermitteln.
Zu den bekanntesten klassischen Dystopien in der Literatur zählen sicherlich „1984“ von George Orwell, „Brave New World“ von Aldous Huxley oder „Мы/Wir“ von Jewgeni Iwanowitsch Samjatin. Bis heute verwenden wir den Begriff „Big Brother“ (aus „1984“), wenn es um den Überwachungsstaat geht.
Was alle diese Dystopien gemeinsam haben, ist, dass sie in einem zukünftigen Gesellschaftsbild mit ihrer Erzählung starten. Es ist ein Wurmloch in die Zukunft, ein Sprung. Du bist sofort da, es gibt keinen Übergang vom Hier und Jetzt zum Dort und Dann.
Und da ist nun dieser neue Roman der deutsch-schweizerischen Autorin Sibylle Berg, die schon immer für ihren Scharfsinn bekannt war. Das Buch trägt den kryptischen und provokanten Titel „GRM – Brainfuck“. Die drei Buchstaben sprechen sich „Grime“ aus und beziehen sich auf das gleichnamige Musikgenre. Entstanden aus Hip Hop und Electronica sind es hier vor allem die deutlichen, gesellschaftskritischen Texte, die die Künstler ins Mikro rappen. Hart, ohne Umschweife und ohne Verschönerungen, die ganze Scheiße so, wie sie nun mal ist. Es ist der perfekte Titel für dieses perfekte dystopische Buch, das aus der Sicht verschiedener – meist jugendlicher – Protagonisten, insbesondere aus den sozialen Brennpunkten des Post-Brexit Englands erzählt wird.
-- Der folgende Abschnitt enthält Spoiler --
Sibylle Berg schafft folgendes: Ihr Roman beginnt in einer Zeit, die nur einen kleinen Schritt in der Zukunft liegt, und deshalb absolut nachvollziehbar. Die Sprache des Romans: Hart, direkt, oft sachlich, selbst wenn über Gefühle gesprochen wird. Und dann entwickelt sich die Geschichte der Protagonisten entlang einer Timeline, die mehreren Grundannahmen folgt.
Auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene folgt Berg der These, dass der Neoliberalismus konsequent fortgeführt wird. Manipulation der Bevölkerung durch Belohnungssysteme und Massen-Profiling. Überwachung muss ausgebaut werden, Bürger-Punkte sorgen dafür, dass die Kriminalitätsrate zunächst zurück geht.
Möglich machen das auf der technischen Ebene zunächst große Datenclouds und Analystemethoden, die mit fortschreitender Erzählzeit künstlichen Intelligenzen weichen, die irgendwann eine eigene, für Menschen unverständliche Maschinensprache entwickeln und in voller Ausprägungsstufe sogar geeignete Kandidaten für Präsidentschaftswahlen empfehlen. Politisch gesehen funktioniert die Demokratie schon noch, aber die Entscheidungen, die zur Wahl einer Partei führen, sind leicht beeinflussbar über gezielte Impulse der Massenmedien. Es ist auch völlig egal, ob du das Ganze durchschaust oder nicht. Das ändert rein gar nichts. Es gipfelt darin, dass der Premier am Ende ein Avatar ist, ein Vertreter der „Online-Partei“. Gute Laune, darauf kommt es an. Egal, ob die Fleischfarmen den Planeten zerstören. Der ist eh schon kaputt. Die vielen Wetterkatastrophen nimmt man kaum noch wahr. Dann kann man auch gleich so weiter machen.
Dass es kaum noch Berufe gibt, die noch vor wenigen Jahren Erfolgsgaranten waren, sorgt dafür, dass sich das Gesellschaftsbild mehr und mehr wandelt. Banker? Brauchen wir nicht mehr. Wir brauchen Programmierer, die unsere KIs programmieren. Obwohl, inzwischen auch nicht mehr. KIs können sich viel besser selbst programmieren.
Konsum ist der Motor der Gesellschaft. Und es ist die einzige Befriedigung, die bleibt, nachdem man durch das ganze Rumgef*cke so dermaßen abgestumpft ist, dass nichts Körperliches oder Geistiges mehr Freude auslöst. Sexualität – langweilig. Reproduktion – weshalb?
Es herrscht am Ende einfach nur noch Resignation. „Ist halt so. Kannste ja eh nix machen. Suizid ist eine vielversprechende Option.“
„GRM“ ist ebenso vielschichtig wie düster. Die Sprache ist ungefiltert und rau. Während des gesamten Hörens des Hörbuches verspürt der Rezipient eine innere Unruhe, Panik, später ohnmächtige Trauer. Man will das nicht. Das soll so bitte nicht werden!
Gut, dass es nur eine Geschichte ist!
Gut, dass es nur eine Geschichte ist? (<-- Fragezeichen)
Sibylle Berg schafft es, einen Weckruf an die Welt zu senden. Sie macht spürbar, was passieren wird – zweifelsfrei – wenn die Menschheit nicht auf der Stelle das Ruder herumreißt. Es geht nicht darum, technischen Fortschritt zu verdammen. Es geht darum, den Umgang damit sensibel zu gestalten und aufmerksam die politischen Geschehnisse zu beobachten. Es zählen der Mensch und seine Bedürfnisse, nicht seine Kaufkraft.
Deutet man „GRM“ als Warnung, dann könnte die Aussage sein: „Lieber Leser, lieber Hörer, du stehst mit viel Glück noch VOR den wesentlichen Wendepunkten der Menschheitsgeschichte und kannst sie vielleicht noch ein bisschen beeinflussen. Dann aber jetzt mal ran.“
Dieses Buch ist schlichtweg erschütternd und äußerst lesens- und hörenswert. Es hat das Potenzial zum Klassiker, und Sibylle Berg hat mit „GRM - Brainfuck“ gute Chancen, in 100 Jahren in einem Satz mit George Orwell, Aldous Huxley und Jewgeni Iwanowitsch Samjatin als eine der großen dystopischen Autorinnen genannt zu werden. Hoffen wir in unser aller Interesse, dass sie nicht als Prophetin betitelt werden wird.
Die Hörbuchfassung erscheint bei Argon oder online bei Audible. Gelesen wird das Hörbuch abwechselnd von Torben Kessler und Lisa Hrdina, die beide den Vibe von „GRM“ absolut perfekt treffen und durch ihre gekonnten Betonungen die dunkelschwarz-zynischen Konnotationen von Bergs Romantext emotional greifbar machen.