Hörspiegel-Meinung (ste):
Ich stehe immer wieder vor derselben Frage:
Wie beschreibt man einen Baricco-Roman so, dass ihn die Leser in der Kürze
eines Rezensionstextes voll begreifen? Es scheint nahezu unmöglich.
Ich versuche es dennoch.
„Diese Geschichte“ heißt der neueste Roman des Italieners. Auf der sachlichen Ebene geht es um die Lebensgeschichte des Ultimo Parri, der sein Leben auf einen einzigen Traum hin ausgerichtet hat. Als die ersten Rennautos fahren, weiß Ultimo es bereits: Es sind nicht die Autos, die ihn faszinieren. Es ist stets die Straße. Und die Straße wird zum Kernpunkt seines Lebens. Sein Lebensweg. Er will eine Autorennstrecke bauen, wie sie noch nie jemand zuvor gebaut hat.
Baricco erzähl die Geschichte aus verschiedenen Sichtweisen. Mal aus der Sicht Ultimos, mal aus der Sicht einer jungen Frau, die sich in Ultimo verliebt hat, aus der Sicht von Ultimos Bruder, oder auch mal aus der Sicht eines fremden Mannes, der seinen Sohn im Krieg verloren hat. Auf der Suche nach dem Sohn trifft er auf dessen damaligen Kameraden: Ultimo. Und der Hörer erfährt nahezu beiläufig, wie es in Ultimos Geschichte während des Krieges weiter geht: Retrospektiv. Und in dieser Weise wechseln Betrachter und Erzählstil von Kapitel zu Kapitel. Mal kürzer, mal länger. Es wechseln die Personen und Orte, aber stets ist das Erzählte immer ein Stück von Ultimos Geschichte, selbst dann noch, als Ultimo längst tot ist und die Frau, die er eigentlich hätte lieben sollen, sich im hohen Alter noch auf die Suche nach Ultimos Lebenswerk macht. Denn irgendwo auf dieser Welt – das weiß sie – ist Ultimos Leben: seine Straße. Und sie will darauf fahren.
„Diese Geschichte“ ist ein typischer Baricco-Roman. Das Thema Automobile ist neu, die Erzähl-Technik jedoch kennt man z.B. aus „City“. Kreatives Schreiben eben. Baricco wiederholt sich auch in der Motivation seiner Protagonisten. So gab es bereits in „Land aus Glas“ eine lange Eisenbahnstrecke, die einfach nur gebaut werden will, damit sie da ist. Und die Suche des Vaters nach seinem Sohn, der im Krieg verloren ging, erinnert stark an die Erzählweise von Sébastien Japrisots „Un long dimanche de fiançailles“ („Mathilde – Eine große Liebe“).
Aber all diese Anlehnungen an bereits Geschriebenes schaden „Dieser Geschichte“ nicht. Im Gegenteil. Man fühlt sich geborgen, weil man weiß, dass Baricco immer noch ein überraschendes nächstes Kapitel in der Hinterhand hat. Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass bei „Dieser Geschichte“ etwas fehlt (es ist mir nicht greifbar, was es ist), kann ich ohne Einschränkungen sagen: Der Meister des Creative Writings hat einmal mehr zugeschlagen.
Das Buch erscheint im Hanser Verlag.
Die Hörbuchadaption aus dem Hause Jumbo / GoyaLIT ist ebenfalls größtenteils gelungen. Die Sprecher interpretieren gekonnt und professionell. Allen voran ein zurückhaltender Dietmar Mues (der umso authentischer klingt, je weniger er die Rolle „spielt“, so wie hier) und vor allem Regina Lemnitz, die ihrem gesprochenen Charakter stets die perfekte Stimme zur Gemütsstimmung verleiht. Auch die anderen Interpreten (Stephan Schad, Thorsten Schröder, Jürgen Uter) sind grundsätzlich angenehm zu hören. Lediglich der Auftakt des Hörbuches ist viel zu schnell. Natürlich, hier geht es um schnelle Autos. Aber das Geschehen wird vom Autor hier stellenweise in klitzekleinen Details beschrieben und mal rasant. Der Sprecher (ich kann leider nicht sagen, welcher der weiteren Sprecher den allerersten Teil übernommen hat) hechtet jedoch von vorn bis hinten seinen Part durch. Daher kann ich keine volle Punktzahl in der Rubrik Sprecher geben.
„Diese Geschichte“: Die leise Lebensgeschichte eines Mannes, der im Kindesalter seine Liebe zur Straße entdeckte und der seither seinen Traum verfolgt. Und das aus vielen – tristen wie bunten – Perspektiven.
Beeindruckend. Baricco.
Hörspiegel-Skala: | |
1. Story | ![]() |
2. Atmosphäre | ![]() |
3. Sprecher | ![]() |
4. Soundtrack | ![]() |
5. Aufmachung | ![]() |
ENDERGEBNIS (gerundet) | ![]() |