Der Wolkenatlas Hot

Nico Steckelberg   03. März 2013  
Der Wolkenatlas

Hörbuch

Autor(en) oder Hrsg.
Erscheinungsjahr
Format
MP3-CD
Anzahl Medien
2

Rückentext

Daphne du Maurier hat mit ihrer Erzählung „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (im Original „Don’t look now“) eine dramatische Schauergeschichte geschrieben, die tiefgründig bewegend ist und gerade durch ihren empathischen Realismus echte Gänsehautmomente erzeugt. Die filmische Umsetzung von Nicolas Roeg mit Julie Christie und Donald Sutherland in den Hauptrollen ist nicht minder verstörend und sorgte bereits zu seiner Veröffentlichung 1973 für viele Kontroversen.

Das vorliegende Hörspiel des RBB stammt aus dem Jahr 2007 und wurde unter der Bearbeitung und Regie von Regine Ahrem aufgenommen. In den Hauptrollen hören wir Stefan Kurt und Sascha Icks, die ihre Rollen ganz hervorragend ausführen. Auch die beiden alten Damen Betsy und Rose (gesprochen von Christine Oesterlein und Carmen-Maja Antoni) überzeugen auf ganzer Linie. Seit „Neuromancer“ bin ich ein begeisterter Anhänger von Matthias Scherwenikas in Erzählerfunktion. Auch bei diesem Hörspiel enttäuscht er mich nicht.

Zusammen mit Michael Rodachs schwermütigem, orchestralen Soundtrack, der Irritation durch leichte Disharmonie erzeugt, Wohlbefinden vorgaukeln kann und das Gleichgewicht zwischen Spannung, Bedrohlichkeit und Emotionalität stets hält, entwickelt sich eine zum Schneiden dichte Gänsehaut-Atmosphäre.

Niemand, der diese Geschichte kennt, wird Venedig jemals wieder mit denselben Augen sehen. Und dieses Hörspiel, das 2013 vom Audio Verlag auf CD wiederveröffentlicht wird, fängt die Geschichte genauso ein wie es sein muss.

Hörspiegel-Meinung

Story/Inhalt 
 
8,0
Atmosphäre 
 
9,0
Sprecher 
 
10,0
Aufmachung 
 
9,0
Gesamtwertung 
 
9,0

Ich gebe es gern zu: Ich habe es mir mit diesem Hörbuch nicht leicht gemacht. Aber es hat einen so enormen Reiz und einen eigenen Willen, gehört zu werden, hat man erst einmal den Wechsel zweier Erzählebenen erlebt. Die Rede ist von David Mitchells „Der Wolkenatlas“.

Als unverfilmbarer Roman von den Wachowskis und Tom Tykwer verfilmt (das Experiment erntete gemischte Resonanz) wagt sich nun der Kuebler Verlag an das Experiment Hörbuch. Zunächst darf man dem Verlag einen Glückwunsch aussprechen, sich für das Filmposter als Coverillustration zu entscheiden. Ein echter Hingucker, und insbesondere das DVD-Box-Format lässt die Verbindung zwischen Hörbuch und Film deutlich werden. Die ungekürzte Lesung ist auf zwei MP3-CDs gepresst und umfasst satte 20 Stunden Spielzeit.

Warum jedoch hat es mir das Hörbuch nicht leicht gemacht? David Mitchells Roman ist vordergründig ein Episodenroman. Es gibt 6 verschiedene Geschichten:
Das Pazifiktagebuch von Adam Ewing (1850), Briefe aus Zedelghem (1931), Luisa Reys erster Fall (Seventies), Das grausame Martyrium des Timothy Cavendish (Gegenwart), Sonmis Oratio (etwa in 100 Jahren) und Sloosha’s Crossin‘ un wies weiterging (ferne Zukunft).
Jede einzelne Episode (oder besser: abgeschlossene Geschichte) hat ihren eigenen Erzählrhythmus, ihren eigenen Sprachsound, ist ein Genre für sich. Sogar die Aussprache einzelner Wörter verändert sich. Die historischen Romanpassagen bedienen sich älterer Begriffe, und Mitchell erfindet auch zukünftige Sprachnuancen, z. B. das Verschlucken von „unwichtigen“ Silben in der Zukunft, oder das benennen vieler Gegenstände mit Markennamen (à la „Tempo“ für Taschentuch, allerdings stark ausgedehnt wie „Ford“ für Auto oder „Disney“ für Film).

Zu den verschiedenen Geschichten: Da gibt es den Abenteuerroman eines Weltenreisenden, den Briefwechsel eines jungen, kreativen und rebellischen Kopfes, der mit den Regeln und Normen des 19. Jahrhunderts auf Dauer nicht viel anzufangen weiß oder einen knallharten Thriller, bei dem eine junge Journalistin die dunklen Machenschaften eines Großkonzerns aufdeckt und dabei in große Gefahr gerät. Es gibt den alternden Verleger, der seine ersten Erfahrungen mit der Demenz und den Hierarchien im Seniorenheim sammelt, die Verhörprotokolle der aus den gesellschaftlichen Strukturen ausgebrochenen Duplikantin Sonmi und der post-apokalyptische Überlebenskampf eines Eingeborenen, der sich täglich neuen Herausforderungen im Überlebenskampf stellen muss. Cormac McCarthys „die strasse“ hoch Zehn. Teilweise sind die Erzählungen jedoch recht ausgedehnt, so dass sich stellenweise Längen abzeichnen. Jedoch immer dann, wenn es einen Wechsel gibt, wird es hochinteressant, denn Elemente der jeweils vorherigen Erzählung sind – wie ein roter Faden – in der nächsten enthalten. So ist beispielsweise Sonmi eine Göttin in der Welt von Sloosha’s Crossin‘. Timothy Cavendish hat beispielsweise Luisa Reys ersten Fall als Verleger herausgebracht usw. So richtig interessant wird es erst im zweiten Teil des Hörbuchs, denn (und hier zitiere ich einmal eine Erklärung des Pressetextes) die Geschichten sind nach folgendem Schema geschachtelt: A-B-C-D-E-F-E-D-C-B-A. Das heißt, man kehrt wieder zurück zum Anfang, und die Storys, die sich in der ersten Hälfte öffnen, schließen sich in der zweiten. Und das sorgt dafür, dass es am Anfang eher mühselig ist, sich alles zu merken. Umso stärker wird man am Ende belohnt, wenn sich nach und nach alle Klammern schließen.

Die Lesung wird hauptsächlich von Johannes Steck geschultert. Und das macht er super! Insbesondere der Teil in der fernen Zukunft war gewiss eine Herausforderung, da die Sprache sehr eigentümlich ist. Steck fliegt geradezu über diese schweren Passagen hinweg und gibt dem Text einen gewissen Humor mit, ohne aufgesetzt zu klingen. Zum Beispiel die Freude, wenn der Protagonist in seiner aus unserer Sicht naiven Ausdrucksweise über Geschlechtsverkehr oder fettes Essen redet, nimmt man Steck ab. Das wirkt alles einfach sehr echt und überzeugend. Aber auch die Passagen, die von Stefan Wilkening („Cavendish“) und Carin C. Tietze („Sonmi“) gelesen werden, können überzeugen. Tietze hat die richtige Stimmfärbung für die Rolle, und Wilkening lässt den alten Kauz vorm inneren Auge aufleben. Ich hätte mir gewünscht, dass es vielleicht noch einen weiteren Sprecher gegeben hätte. Beispielsweise hätte ein Simon Jäger oder ein Sascha Rotermund hervorragend zu Robert Frobishers Briefen aus Zedelghem gepasst. Und das Pazifiktagebuch hätte bestimmt auch gut geklungen mit den Stimmen von Bernd Vollbrecht oder Hans-Georg Panczak. Aber dieses Gedankenspiel soll in keiner Weise Johannes Stecks Leistung schmälern. Er macht hier einen großartigen Job. Allein die Chance, jede der sechs Geschichten mit einer eigenen Stimme auszustatten, wurde hier zugunsten Stecks nicht genutzt. Aber der Erfolg heiligt ja bekanntermaßen die Mittel.

Ich habe mich lange gefragt, was die Kernaussage des Romans ist. Die einzelnen Erzählelemente, die in die jeweils anderen Ebenen transferiert werden dienen zwar als roter Faden. Aber ist das der Kern des Romans? Wohl kaum. Es ist vielmehr ein Symbol dafür, dass alles, was Menschen tun, getan haben oder tun werden, miteinander verbunden ist. In jeder der dargestellten Epochen und Erzählgenres geht es um Konflikte, die durch zwischenmenschliche Beziehungen oder Hierarchiemodelle entstehen. Die richtigen Entscheidungen können jedoch auch diese Beziehungsgeflechte einsetzen um Lösungsmöglichkeiten zu finden. Es geht also im positiven Sinne um eine der wichtigsten menschlichen Eigenschaften: Empathie. Und um die Tatsache, dass alles, was wir tun, irgendwann eine Auswirkung auf andere Individuen bis hin zu Bevölkerungsgruppen und Völker haben wird. Und so nimmt auch der Begriff der „Verantwortung“ eine zentrale Stellung in der Analyse dieses Romans ein.

Fazit: Komplex aber nicht kompliziert, vielschichtig aber nicht undurchsichtig, interessant und außergewöhnlich, stellenweise etwas detailverliebt aber niemals langweilig. Ein gesellschaftskritisches, historisches Epos in Form eines epochenübergreifenden Episoden-Unterhaltungsromans. Erstklassig gelesen und das Beste: Ungekürzt!

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