Maritim Literatur (1)
Wolfsmehl: "Zeit der Unübertrefflichkeit"

© 2002 Maritim
Rückentext:
Das Thema hat geschichtlichen Hintergrund und ist zugleich hochaktuell. Geschildert werden auf faszinierende Weise die Lagererlebnisse des jungen KZ-Insassen Schadrach in der Zeit des Dritten Reichs. An ihm und anderen Opfern praktizieren der berüchtigte Lagerarzt Dr. Skindal hinter der Maske eines kultivierten Bildungsbürgers unvorstellbar grausame Handlungen.
Nicht ohne Ironie wird vorgeführt, wie der Arzt sein perfides Tötungsritual zur absoluten Kunstform stilisieren will.

Hörspiegel-Meinung (ste):
„Zeit der Unübertrefflichkeit“ ist ein Hörspiel, das man nicht so leicht vergisst.
Es beginnt mit einer kurzen, ernsten Titelmelodie, gefolgt von dem Geräusch einer Eisenbahn, das unverkennbar auf die geschichtsträchtige Lokation der Handlung verweist: ein Konzentrationslager.
Und schon beginnt eine Geschichte, die so pervers, so erschreckend und bedrückend wie genial und abgrundtief hässlich ist. Erzählt wird das fiktive Erlebnis des KZ-Insassen Schadrach, seine Folter durch den KZ-Arzt Dr. Skindal, berichtet aus der Sicht des Unterlegenen, des, wie er sich selbst bezeichnet, „Untermenschen“.

Gleich zu Beginn erfährt der Hörer, dass es sich bei der Erzählung ursprünglich um einen Brief handelt. Den Brief des Häftlings an den Kommandanten, an den Leiter des Lagers.
Es ist die Rede von einem „vorzüglichen Scherz“, es erklingen Worte der Dankbarkeit. Doch schnell wird Ihnen bewusst: hier stimmt etwas ganz und gar nicht.

Beschrieben werden Schadrachs Eindrücke und Gefühle, als er ein Zimmer betritt, in dem er auf den Lagerarzt Dr. Skindal warten soll. Er beschreibt den Raum. Seltsame Tapeten, seltsame Lederstühle...
Alsbald betritt Dr. Skindal das Zimmer und der vorgelesenen Brief entwickelt sich zu einem Dialog zwischen Häftling und Arzt, der intelligenter und erschreckender nicht sein könnte. Konrad Halver (langjähriger Winnetou-Sprecher und Regisseur dieses Hörspiels) als Schadrach und Matthias Fuchs (bis zu seinem Tod Erzähler der „Drei ???“) liefern sich eine wortgewandte aber dennoch so ungleiche Diskussion, deren Ergebnis scheinbar kein anderes sein kann als Schadrachs Tod. Warum nun soll Schadrach sterben? Das Menschenzimmer, wie Dr. Skindal es beschreibt, ist beinahe fertig; es wird ein Geschenk an den Herrn Kommandanten. Es fehlt nur noch ein Stück Tapete. Ganz langsam wird dem Hörer bewusst, dass es sich um keine gewöhnliche Tapete handelt. In diesem Raum ist alles aus Mensch. Hauttapeten, Knochentische, Menschenleder-Sessel. Schadrach weiß nun, was er hier soll, dennoch versucht er aus der aussichtslosen Lage eines zum Tode Verurteilten heraus weiter zu diskutieren, immer mehr, nur nicht aufhören zu reden. Und schnell wird klar: Skindal erwartet, dass Schadrach sich geehrt fühlt, an diesem Menschenzimmer, an diesem Geschenk für den Kommandanten, mitzuarbeiten.

Durch diverse Zufälle kommt es doch nicht zu Schadrachs Tod, auch wenn bereits so mancher Tropfen Blut geflossen ist und (was viel schlimmer scheint) Schadrach den permanenten Hauch des Todes verspürt.
Ich darf dem oberpfälzer Autor Wolfsmehl gratulieren. Ich habe selten solch interessante und wohl formulierte Dialoge gehört, noch dazu so brillant umgesetzt von Halver und Fuchs. Ich frage mich, wie lange an diesen Sätzen gefeilt wurde.

Musikalisch ist „Zeit der Unübertrefflichkeit“ eher schlicht ausgefallen, mit Stücken von Bizet und Mahler, aber auch eher selten. Nichts lenkt den Hörer von der Brutalität und Kälte des Dr. Skindals ab.
Ich fühle mich in der Erzählweise und Machart an Edgar Allen Poes „Die Grube und das Pendel“ erinnert. Auch dort schildert der Gefolterte im Nachhinein aus seiner Sicht, welche seelischen  Qualen er während seiner Folter durchzustehen hatte, und wie es letztlich zu seiner Rettung kam. Wolfsmehl belebt diesen Gedanken mit neuer Energie wieder.

Wie gesagt: Nichts für Hörer mit schwachen Nerven. Mit der Frage, ob Sie diese Erzählung ethisch vertreten können, sollten Sie sich jedoch selbst auseinander setzen.
Doch selbst wenn Sie zu einem negativen Ergebnis kommen, ist „Zeit der Unübertrefflichkeit“ absolut empfehlenswert, allein schon wegen der brillanten Sprecherleistung, der wohl durchdachten Dramaturgie und vor allen Dingen wegen der hochkarätigen Dialoge.
 
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Hörspiegel-Skala:
1. Story 
2. Atmosphäre
3. Sprecher
4. Soundtrack
5. Aufmachung
ENDERGEBNIS (gerundet)

(Nico Steckelberg, © 2002 Der Hörspiegel )